Haus Nummer 9

von Mari Fee Stührk

Tobias verhielt sich seltsam seit dem Unfall vor drei Monaten.  Er sah, wie sich die Tür des Krankenzimmers öffnete. Die Krankenschwester kam in das verlassene, blasse Zimmer und machte das Bett neu, in dem zuvor ein anderer Patient lag, der früher entlassen wurde. Er sah auf die Zacken vom EKG. mari fee tagcloudSie waren alles andere als deutlich und das hieß, soweit er wusste, nichts Gutes. Er war müde und hatte Mühe seine Augen offen zu halten. Er hatte immer noch nicht realisiert, was passiert war, obwohl sich die Bilder in seinem Kopf genau eingeprägt hatten und dort auch für immer bleiben würden. Das Wasser war eiskalt und dunkel. Die Ärzte sagten, er hätte viel Wasser geschluckt. Immer wieder schnappte er nach Luft und tauchte wieder unter, um dann erneut nach Luft zu schnappen. Die Ärzte mussten das Wasser abpumpen. Immer wieder tauchte die Hand seinen Kopf unter Wasser. Kora hatte versucht ihn umzubringen. Jetzt saß sie im Jugendgefängnis.

Heute würde er  entlassen werden. Er hatte dieses eintönige Krankenhaus satt. Nun besuchte er eine andere Schule, denn in seinem Gehirn waren durch den Wasserdruck einige Nerven beschädigt worden. Tobias war dabei eine Ausnahme, denn normalerweise würde man nicht solch einen großen Schaden davon tragen. Die Schule sei wohl spezialisiert auf Schüler  wie ihn, sagten seine Eltern und, dass es ihm dort gut ginge. Aber Tobias wollte nicht mit den anderen in eine Schublade gesteckt werden. Er dachte, er würde den schulischen Leistungen schon gerecht werden, aber mittlerweile sah er auch ein, dass er sich ab sofort verändert hatte. Er saß vor dem Krankenhaus auf einer Bank und wartete darauf, dass er abgeholt wurde. Von weiter weg sieht er die Straßen Seite, aus der seine Eltern kommen . Immer wieder sprang er auf, wenn er ein silbernes Auto sah. Immer wieder bogen die Autos jedoch falsch ab und Tobias setzte sich wieder hin. So vergingen die Stunden und er saß immer noch mit seinem Koffer draußen auf der Bank. Plötzlich kam ein silbernes Auto, das nicht falsch abbog. Seine Mutter stieg mit frisch frisiertem Haar aus dem Auto. Sie rief: ,,Hallo Darling!“ Sein Vater blieb im Auto sitzen und beachtete ihn nicht. Er sah genervt aus. Tobias‘ Mutter rannte ihm entgegen und sah dabei aus wie eine Ente auf ihren High-Heels: „Wenn du wüsstest, wie ich dich vermisst habe! Dir hätte es bestimmt gefallen auf den Fijis!“ Nein, es hätte ihm nicht gefallen und das wusste sie auch genau. Er hasste warme Orte. Tobias ließ sich ins Auto fallen und seine Mutter stieg ein. Sie fuhren los, die Straße hoch, die er zuvor stundenlang betrachtet hatte. Neben ihm auf dem Sitz lag ein Stapel Ratgeber mit Titeln wie „Eltern mit schwierigen Kindern“. Sie fuhren in eine Seitenstraße und kamen an einen Ort, von dem er dachte ihn zu kennen. „Aussteigen!“,  rief sein Vater. Tobias hatte das Gefühl, sein Vater wäre unzufrieden damit, dass er nun keinen Sohn wie jeden anderen mehr haben würde, sondern einen „behinderten“. Er stieg aus und ging auf das Haus zu, auf dessen Parkplatz der Vater geparkt hatte. Hausnummer 9.
Die Tür war nur angelehnt und er trat ein. Tobias fragte seine Eltern: „Wo ist mein Zimmer?“ und Mutter und Vater antworteten gleichzeitig: „Treppe hoch rechts“ und warfen ihm einen bekümmerten Blick zu. Er ging die Treppe hoch und dann nach rechts. Tobias öffnete die Tür. In seinem Zimmer befand ich nichts außer einer alten Matratze. „Mom? Hier liegt nur eine Matratze.“ Aber es kam keine Antwort. Er lief wieder runter. Seine Eltern waren nicht dort. Er öffnete die Tür und sah, wie das Auto um die Ecke fortfuhr. Tobias war völlig verwirrt und ängstlich. Er wusste nicht, wo er war und er hatte nur einen eingeschränkten Wortschatz. Jetzt wünschte er sich plötzlich nichts lieber, als wieder im Krankenhaus zu sein.Es war morgens. Mari FeeTobias ging durch die Straßen und suchte vergeblich nach dem Einwohnermeldeamt, als es plötzlich vor ihm stand. Fazit: Er ging raus und wusste nun, dass seine Eltern nicht mehr hier wohnten und, dass das Haus mit der Nummer 9 sein ehemaliges Familienhaus war. Der letzte Anhaltspunkt, den er hatte, war die Schule. Nie hätte er gedacht, sie einmal so dringend zu brauchen. Aber wer hätte denn überhaupt irgendetwas von dem ganzen gedacht? Er hasste Kora, er hasste seine Eltern, er hasste diese Stadt und er hasste es so zu sein, wie er war. In den Eltern-Kind-Ratgebern, die auf dem Beifahrersitz im Auto lagen, hatte wohl folgendes gestanden: „Wenn ihr Kind Probleme macht, setzen sie es einfach aus.“ Kora sollte es noch leidtun.
„Hallo, wer ist da?“ „Hallo, Kora! Hier sind die Eltern von Tobias. Wir möchten, dass du einen zweiten Versuch startest. Das Gehalt wird natürlich erhöht!“…

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